Möglichst viel erleben, die Welt bereisen, solange es noch geht. Im höheren Alter ginge das
schließlich schwieriger. Das jedenfalls hört man immer wieder. Stimmt das? Ich war erst skeptisch,
als man in der Schulklasse nach Freiwilligen suchte, die mit älteren Menschen Zeit verbringen
möchten. Ob ich das parallel zur Schule unter einen Hut bekäme. Jetzt weiß ich, wie einem ältere Menschen die Augen öffnen können.
„Ich befinde mich auf der Zielgeraden“ ist einer der ersten Sätze unserer Begegnung. Mutig, denke
ich mir. Bekomme ich das später auch so hin, der Realität unerschrocken in die Augen zu blicken?
Keine schöne Vorstellung. Zumindest jetzt nicht.
Auf dem Weg zum Konzert kommen wir auf das Leben meiner Begleitung zu sprechen. Sie habe nicht
viel erlebt, sagt sie mir. Das muss man ja auch nicht zwingend – das gesellschaftliche Bild gibt es
einem nur vor. Auf dem Nachhauseweg gehen mir die gehörten Sätze nochmals durch den Kopf. Ich
realisiere, wie viel sie zu erzählen hatte. Wie viel ihr Familie bedeutete. Die große Karriere, das
Bereisen ferner Länder blieb ihrem großen Bruder vorbehalten. Dieser verstarb bereits vor ein paar
Jahren. Unglücklich wirkt sie dennoch nicht. Sie machte sich viel aus ihrer Familie und ihrer Heimat.
Sie erzählt und erzählt voller Begeisterung. Und das alles, obwohl sie zuvor beteuerte, dass sie nicht
viel erlebt hatte. Aus diesem Gespräch habe ich meine komplette Vorstellung über das Leben
hinterfragt. Ich war immer der Meinung, ich könne am Ende meines Lebens nicht glücklich sein, wenn
ich den einen oder anderen vorgenommenen Meilenstein nicht erreicht hätte. Ihr Leben erschien mir
viel sinnreicher. Und da sitze ich nun in der S-Bahn. Völlig verloren in der Lethargie des Alltags. Und
doch so viel reicher, als vorher.
Und dann erinnere ich mich an einen Collegeblock, in den ich mit einem Freund aus Langeweile eine
Bucket-List verfasste – eine Seite voll von Zielen, die wir erreichen wollten. Einen Wohnsitz im
Ausland, einen Bestseller schreiben, die Traum-Uni abzuschließen. Es machte Spaß, sich sein Leben
ins Detail auszumalen. Und manchmal kommt doch alles anders. Wie bei meiner Begleitung im
Konzert. Als Kind hatte sie auch Träume. Keine Frage – seinen Träumen sollte man, so gut es geht,
nachgehen. Man soll sich eben aber auch nichts drauß machen, wenn es nicht klappt. Das Leben ist
auch so schon schön genug! Und was ist schon ein ambitioniertes Ziel wert, wenn man im Gegenzug
die Zeit mit wichtigen Menschen im Leben eintauscht. Auch meine Begleitung will abschließen – nicht
jedoch die Traum-Uni, sondern ihr Leben. Was für ein Wort. Furchterregend. Aber aus ihrem Mund
so besänftigend.
Durch sie erkenne ich: Je mehr man sich feste Ziele setzt, desto wichtiger ist es für das eigene Ego,
diese auch zu erreichen. Am Ende des Lebens schaut man auf es zurück und denkt dann eher an die
Dinge, die man unbedingt noch machen wollte. Oder womöglich an die Dinge, die man falsch
gemacht hat. Und wie traurig ist es dann, dass man all‘ die schönen Momente vergisst, in denen sich
eine auf den ersten Blick negative Entscheidung vielleicht doch als positiv herausgestellt hat? Diese
wären überschattet von der Enttäuschung über einen selbst.
Und dann erinnere ich mich an eine Reportage, in der Ausländer von ihren Erfahrungen in
Deutschland erzählten. Und was auffällig oft fällt: die Floskel „Zeit ist Geld.“ Im Ausland mache man
oftmals keine Uhrzeit zum Treffen aus, sondern orientiert sich an den Tageszeiten morgens, mittags
und abends. Diese Verkopftheit, sein Leben durchzuplanen, führt dazu, dass unser Lebensgefühl
nicht besser, sondern eher schlechter wird, weil wir enttäuschter sind, wenn etwas nicht klappt. Eine
Frage der Mentalität? Der Sozialisation? Oder beides? Es ist eine Frage der Lebenseinstellung. Die
Deutschen müssten entspannter werden und ihre Durchgetaktetheit loslassen. Denn ein Leben aus
dem Bilderbuch ist meistens gar nicht so erstrebenswert. Auch meine Begleitung will loslassen. Schon
wieder so ein Wort, das mir Angst macht. Damit scheine ich der einzige in unserer Runde zu sein.
Meine Begleitung macht eher den Eindruck, dass sie es mit einem anderen Lebensgefühl verbindet.
Mit etwas wie Hoffnung. Gut, dass sich meine Skepsis aufgelöst hatte, als nach Freiwilligen gesucht
wurde.
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